Die Nacht zum Tag machen, gemeinsam am Lagerfeuer singen, unter freiem Himmel einschlafen und zusammen mit Freunden eine Abenteuerwoche verbringen, in der die
Alltagsregeln auf dem Kopf stehen: Seit mehr als 40 Jahren wird dieser Traum von Freiheit im Loccumer Kinderzeltlager ausgelebt.
Bert Schwarz, der das Projekt Ende der siebziger Jahre ins Leben gerufen hat, erinnert sich an die Anfänge: "Mich hat gestört, dass das Ferienangebot für die Kinder
in der Gemeinde nicht immer ausreichend und sachgerecht war." Pragmatisch stand bereits in den Anfangsjahren für ihn fest: "Jedes Kind hat das Recht, sich zu verletzen. Mir tun zwar alle leid,
die sich beispielsweise eine Hand brechen, doch noch mehr bedaure ich diejenigen, die überhaupt keine Gelegenheit dazu haben." Mehr als 40 Jahre Loccum bedeuten mehr als 3000 zufriedene Kinder,
unzählige Lagerlieder, Großer Rat am Lagerfeuer, viele ehrenamtliche Mitarbeiter, eine stets gelobte Verpflegung, Singen unter Sternenhimmel, Nachtwanderungen mit Gruselfaktor, schmutzige Füße,
der Geruch von Feuer und Rauch in allen Kleidern und fast grenzenlose Freiheit für die Kinder. "Das Faszinierende an Loccum ist, dass es Jahr für Jahr kaum Streit oder Zank und keine tätlichen
Auseinandersetzungen gibt, stattdessen ist die Atmosphäre friedlich, vertrauensvoll, fast paradiesisch", sagt Hella, die von Anfang an dabei war. Unterstrichen wird die besondere Stimmung durch
die Abgeschiedenheit von der Großstadt und die Verbundenheit mit der Natur. Auf dem Rücken der Lagerpferde können die Kinder über die angrenzende Weide galoppieren. Die Hühner sorgen jedes Jahr
für Aufregung: "Die legen sogar Eier", staunt der vierjährige Jendrik. Zu seinen besten Freunden zählt aber auch der weiße Schäferhund Arktis, der den Zeltplatz wie seine zahlreichen Vorgänger
Tag und Nacht bewacht - wer nicht nach Feuer und Dreck riecht, wird angebellt. In den achtziger Jahren hatte Cesar diese Aufgabe übernommen. Der braune Rüde gehörte einem Loccumer Hofbesitzer.
Jeden Sommer aber, wenn die Kinder das Grundstück der Kirchengemeinde bevölkerten, war er nicht mehr auf seinem Hof zu halten und machte sich auf und davon, um die Bewachung der Ferienkinder zu
übernehmen.
Der Tag auf dem Zeltplatz fängt mit Aufgehen der Sonne an. Die Frühschicht Tobi und Lars löst die Nachtwache Louisa und Nils am Lagerfeuer ab. Verschlafen reibt sich Max, der mit anderen Kindern am Lagerfeuer in Schlafsäcken geschlafen hat, die Augen. Jetzt heißt es für die Teamer heißen Kakao kochen und mit den Müttern mehr als 250 Brötchen schmieren - vorzugsweise mit Nutella, seit mehr als 40 Jahren der Renner unter den Frühstücksbrötchen. Ein Teil der Kinder ist schon dabei, die auf dem Platz versteckte Tagesaufgabe zu finden und sich an die Lösung zu machen, andere wachen gerade erst auf. Vormittags treffen sich die Kinder mit ihren Teamern in den Gruppen, dichten Lieder, basteln Wappen und Fahnen und bemalen ihre Kostüme. Währendessen haben die Geschwister Luca und Pia sich am Infobrett informiert, welchen Tageshöhepunkt es heute gibt. Auf dem Programm steht ein Brennballturnier in der Sandkuhle mit den Teamern Marieke und Mucke. Zum Mittagessen geht es zurück auf den Platz. An der Essenausgabe bildet sich eine lange Schlange. Im Chor singen alle Kinder „Wir haben Hunger, Hunger, Hunger…“. Aus großen Töpfen und Pfannen werden Kartoffelbrei, Spinat und 300 Fischstäbchen serviert. Bei der Nachtischausgabe beginnt das große Gedränge – Es gibt Eis.
Am Nachmittag findet die bei den Kindern heiß begehrte „Freie Wahl“ statt. Passend zum Thema werden unterschiedliche Aktivitäten angeboten, unter anderem Reiten, Schnitzen, Fechten, Bogenschießen, Schwert- und Schildbau, Mosaiklegen und Speerwerfen. Für die achtjährige Sophia ist die Entscheidung leicht, sie geht zum Reiten, wie die vergangenen Tage auch. Schwerer tun sich da Fritjof und sein Freund Tim - Sollen sie zum Bogenschießen gehen oder lieber weiter Karten spielen?
Ein Trompetenruf erschallt durch das Lager. Es ist Zeit für das Abendbrot. Die Mütter haben acht große Brote in Scheiben geschnitten, mit Butter bestrichen und belegt. Als Zugabe gibt es Gurken, Karotten und Paprika. Nach dem ersten großen Ansturm wird es ruhiger, allmählich geht der Tag dem Ende zu.
Nun freuen sich schon alle auf den Großen Rat. Ben und Anna eröffnen die Runde an der Feuerstelle mit einem Gruß an die Kinder und stimmen das Lagerlied an. Wer Beschwerden vorzutragen hat oder Ideen weitergeben möchte, tritt in den Kreis des nahezu ohne Unterbrechung lodernden Lagerfeuers und redet frei heraus. Hier wird jeden Abend die Küche gelobt und werden Suchmeldungen für verschwundene Schnitzmesser vorgetragen. Jede Gruppe singt ihr eigenes Lied. Anschließend feiern einige Kinder noch bis in die frühen Morgenstunden in der Taverne „Zum lustigen Legionär“. Andere wollen nur noch die Gute-Nacht-Geschichte hören und sich in ihre Schlafsäcke verkriechen. Vincent fragt lauthals am Lagerfeuer, wer die Nacht mit ihm durchmachen möchte. Zwei Stunden später wird er von der Nachtwache ins Bett getragen. Vor Müdigkeit ist er am Lagerfeuer eingeschlafen.
Der Tag beginnt wie jeder andere im Ferienlager auch. Doch etwas ist heute anders. Ein großes Kreuz, mit Birkenzweigen und bunten Bändern geschmückt, wird feierlich auf dem freien Platz in der Mitte des Lagers aufgebaut. Nach dem Mittagessen wandern alle Kinder zur Quelle im Wald, das Täuflingskind holt das Wasser für die Taufe. Währendessen bauen die Teamer eine große, festlich gedeckte Tafel auf, an der später Kinder und Gäste das Festmahl einnehmen. Louisa und Lea binden Bänder in die Bäume, um das Lager für den großen Tag zu schmücken. Die Mütter in der Küche sind schon seit dem Morgen mit den Vorbereitungen für das Mahl beschäftigt.
Das Festessen beginnt und die Kinder und Gäste werden von den Jugendlichen bedient. Es gibt Malzbier, Hähnchenschenkel, belegte Brote, Melonen, Gemüse und kleine Spieße mit Käse und Trauben sowie viele weitere Leckereien.
In der Dämmerung ertönt ein Trompetenruf durch das Lager und gibt das Zeichen zum gemeinsamen Aufbruch. In einem langen Zug ziehen die Kinder mit Fackeln und Fahnen durch das Dorf zum Kloster.
Als Ben nach Sonnenuntergang das Tor zum finsteren Kreuzgang aufsperrt, werden die Kinder mucksmäuschenstill. Ihre selbstgebastelten Schwerter und Schilder lassen sie am Eingang zurück; stattdessen nehmen sie weiße Kerzen entgegen, deren Licht ihnen den Weg zum prächtigen Kapitelsaal erleuchtet.
„Die Taufe ist das Zeichen: Euer Leben ist wichtig“, sagt Pastor Friedhelm Harms. Für die anwesenden Eltern fügt er hinzu: „Wir brauchen diese Taufe, weil wir wissen, dass diese Kinder uns anvertraut sind. Sie sind Inhalt unserer Hoffnung, aber sie sind nicht unser Besitz.“
Die einzigartige Atmosphäre der Taufnacht im Loccumer Kloster lässt sich schwer beschreiben. Man muss sie einfach erleben.
Nach der Zeremonie gehen die Kinder singend ins Lager zurück. Dort angekommen, geht die Feier am Lagerfeuer bis in die Morgenstunden weiter.
Möglich ist das Ferienlager-Projekt nur, weil sich stets eine große Anzahl an ehrenamtlichen Helfern mit viel Engagement und Leidenschaft an dem Lager beteiligt. In erster Linie sind die Betreuer ehemalige Kinder des Ferienlagers. Erfolgsrezept ist die gründliche Vorbereitung, für die sich die Betreuer ein Jahr lang Zeit nehmen. Exkursionen nach Istanbul, Rom, Paris oder Haitabu sorgen für ein möglichst geschichtsnahes Erlebnis. Die Teamer erhalten einen Eindruck von dem Thema, erste Ideen entstehen. Nur was man selbst erlebt hat, kann man auch weitergeben, ist die Prämisse. Alle zwei Jahre wechselt das Thema. So werden die Abenteuerferien nicht zur Routine. Für die 14- bis 20-jährigen Betreuer bedeutet das Lager einerseits Freiheit und Abenteuerromantik, andererseits viel harte Arbeit und Disziplin. Bereits Pfingsten fahren sie auf den Zeltplatz, um Vorarbeiten zu leisten. Der Platz wird passend zum Thema hergerichtet, Bäume gefällt, Wurzeln ausgegraben, Winterschäden behoben. Einige Teamer stehen schon im Berufsleben und nehmen sich, wie auch einige der mitfahrenden Mütter, extra Urlaub für das Ferienlager.
Großen Dank gilt an dieser Stelle den Familien Schwarz, Plinke, Christoph, Peisker, Nonnast, Heime, Irvin, Spellerberg, Probst, Niemann, Krüger, Duwenkamp, Reiß, Bredehöft, Kumkar, Gloger, Krüning, Schmidt und vielen anderen mehr, ohne die die vergangenen 40 Jahren nicht möglich gewesen wären.
Als 1978 die Kinder im ersten Ferienlager auf dem Gelände in der Loccumer Heide Zigeuner spielten, schliefen sie noch in Pfadfinder-Kotenzelten. Aus diesen schwarzen Planen wurden nach einigen Jahren ausgeliehene holländische Militärzelte. Heute stehen auf dem Platz komfortable feste Holzhütten mit Stromanschluss. Aus Plumpsklos mit Herzchentüren und einem richtigen Thron in Rot und Gold - eine übrig gebliebene Requisite aus dem König-Arthus-Lager - bauten die Mitarbeiter 2001 einen Toilettenwagen mit Wasserspülung. Anfangs duschten die Teilnehmer verdeckt von Kotenplanen mit einem einfachen Wasserschlauch im Freien. Später gab es einen Waschwagen mit angrenzender Holzkonstruktion für zwei fest installierte Duschen mit Kunstrasen. Es folgte ein luxuriöse, gefliester Container (gespendet von der Firma Oettinger) mit drei separaten Duschkabinen und Waschbecken (ausgebaut von der Firma Reiß).
Doch nicht nur im Sanitär- und Schlafbereich gab es viele Veränderungen: Als Tina Probst Anfang der 80er Jahre die Leitung der Lagerküche übernahm, musste sie die verderblichen Lebensmittel zur Kühlung noch in der Erde vergraben. Gekocht wurde auf dem staubigen Sandboden. Heute gibt es ein helles Küchenzelt mit Holzfußboden aus Paletten, einheitliche Teller und Becher, einen renovierten Küchenwagen mit Kühlschränken und einer Tiefkühltruhe. Dort hängen zudem zahlreiche Großküchengeräte – früher wurden die Nudeln noch durch eine Fliegendrahtkonstruktion abgeschüttet. Aus Kanistern, mit denen man das Wasser von den Nachbarn holte, ist eine komfortable Wasserstelle mit Sickergrube geworden. Mit den unterschiedlichen Themen änderten sich auch die jeweilige Platzdekorationen: Indianertipis, germanische Langhäuser, orientalische Rundbauten, mittelalterliche Burganlagen und ein Piratenschiff entführten die Kinder immer wieder in unterschiedliche Jahrhunderte. Fast übergangslos gab es im Jahr 2000 auch eine Veränderung bei der Leitung des Lagers. Bert übergab die Organisation an Anna und Ben. Die pädagogische Grundidee aber blieb erhalten.
In den vergangenen 40 Jahren haben die insgesamt mehr als 3500 Ferienkinder und die 500 ehrenamtliche Mitarbeiter auch so einiges gegessen: Insgesamt wurden ca. 600 Kilo Reis, 800 Kilo Nudeln, 650 Kilo Kartoffeln, 800 Kilo Apfelmus, 640 Kilo Brot, mehr als 1000 Kilo Fleisch, Unmengen an Tomatensoße, 60 000 Brötchen und wer weiß wie viele Gläser Nutella verbraucht.